Einführung

Lukas Cranach d.J., Epitaph für Fürst Joachim von Anhalt, Johanniskirche Dessau (Ausschnitt) 
Lukas Cranach d.J., Die Reformatoren als Jünger des Herrn. Epitaph für Fürst Joachim von Anhalt (1565), Johanniskirche Dessau (Ausschnitt): Im Vordergrund links kniet Fürst Joachim von Anhalt, zu dessen Gedenken das Bild in Auftrag gegeben wurde, rechts stehend als Mundschenk hat sich der Maler selbst porträtiert. Am Tisch sitzen (im Uhrzeigersinn von links): Caspar Cruciger, Justus Jonas, Johannes Bugenhagen, Martin Luther, Georg III. von Anhalt (genannt der Gottselige), Christus (betont durch die Säule im Mittelgrund), Philipp Melanchthon, Bartholomäus Bernhardi, Johann Pfeffinger, Johann Forster, Georg Major, Magister Georg Helt (?) und - in der Rolle des Judas - Matthias Flacius (?).

Bekenntnisbildung und das Entstehen der großen Konfessionskirchen mit ihren spezifischen Ausprägungen in Lehre und Frömmigkeit sowie die Interaktion dieses Prozesses mit politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen sind seit vielen Jahren ertragreiche Gegenstände interdisziplinärer Forschung. Dabei haben bisher Verlaufsformen reformatorischer Neuordnung in Kirche und Gesellschaft, die mediale Vermittlung von Lehrinhalten und rituelle Frömmigkeitsstrukturen sowie darüber zu ermittelnde Kontinuitäten und Umbrüche im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Weniger in den Blick gerückt ist die Rolle der theologischen Auseinandersetzungen für die sich vollziehende konfessionelle Identitätsbildung. Diese frühneuzeitliche „Streit- bzw. Kontroverskultur“, die auf vielfältige literarische Genres zurückgriff – akademische Disputationsthesen und Streitschriften, satirische Lieder, illustrierte Flugblätter und Bekenntnisse – sowie verschiedene kommunikative Formen und Strukturen nutzte, war polemisch aufgeladen und zielte darauf, den jeweiligen Opponenten des Irrtums zu überführen und möglichst für die eigene Meinung zu gewinnen. Konsensfindung im Sinne eines beiderseitigen Kompromisses konnte es in diesem auf universitären Disputationsstrukturen aufbauenden Aushandlungsprozess nicht geben, ging es doch um die theologische Wahrheit schlechthin. Kontroversen entfalteten daher eine große konsolidierende Kraft und spielten für die Abgrenzung der Konfessionen gegeneinander und ihre Profilierung eine bedeutende Rolle. Das Projekt „Controversia et Confessio“ macht die ausschlaggebenden Schriften der nach dem Augsburger Interim von 1548 aufgebrochenen Streitigkeiten zugänglich. Sie trugen entscheidend dazu bei, dass eine noch vorkonfessionell integrative Theologie der Wittenberger Reformation in dem Bestreben, das reformatorische Erbe Martin Luthers möglichst getreu zu bewahren, allmählich in verschiedene, sich stets neu konstituierende „konfessionelle“ Gruppierungen auseinanderfiel, um schließlich zur Ausprägung der großen Konfessionskirchen hinzuleiten bzw. diese entscheidend mit zu befördern.

Ziel des Editionsprojekts ist es, die theologische Streitkultur als entscheidenden Motor für die Präzisierung reformatorischer Lehre, als Anstoß für eine vielfältige Bekenntnisbildung und als ausschlaggebenden Faktor für die abschließende Konsolidierung der Konfessionen in ihren bis heute bestehenden lehrmäßigen Charakteristika wahrzunehmen und in einer kommentierten Textedition zugänglich zu machen. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit vom Augsburger Interim und dem Leipziger Alternativentwurf von 1548 als Auslöser der Kontroversen bis zur Erstellung von Konkordienformel und Konkordienbuch 1577/80 als großangelegtem theologischem Einigungswerk, das in Herzog Ludwig von Württemberg, Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel, anfänglich auch in Landgraf Wilhelm von Hessen und später in Kurfürst August von Sachsen entschiedene Förderer hatte. Zwar verstummten die Auseinandersetzungen auch nach Abschluss der Concordia noch nicht. Aber für der Zeitspanne von 1548 bis 1577/80 ist eine bis dahin nicht gekannte Häufung von Kontroversen und zugehörigem Schrifttum zu beobachten, die sich auf relativ geschlossene „Streitkreise“ mit einem jeweils klar zu identifizierenden thematischen bzw. theologischen Problem fokussierten. In keiner anderen Phase der Frühen Neuzeit stand – wie hier – der Gesamtzusammenhang der reformatorischen Lehre in der Differenziertheit ihrer Loci zur Debatte. Dies wurde richtungsweisend für die Identitätskonstruktion der Konfessionen und ihre dogmatische Ausformulierung.

Eigentlicher Auslöser der Kontroversen war weniger das Augsburger Interim als vielmehr der dem Leipziger Landtag vorgelegte Alternativentwurf zu jenem kaiserlichen Religionsgesetz, das nach der Niederlage der Evangelischen im Schmalkaldischen Krieg auf eine weitgehende Wiederherstellung altgläubiger Lehre und Riten – mit Ausnahme von Laienkelch und Priesterehe – in den reformatorisch gesinnten Territorien und Städten zielte. Die zur Vorlage auf dem Leipziger Landtag von einer Theologengruppe auf Bitten Kurfürst Moritz‘ und unter Beteiligung Melanchthons erarbeitete Alternative sah dagegen die Beibehaltung der reformatorischen Lehre unter Wiedereinführung ausgewählter altgläubiger Riten vor, wobei die Weiterentwicklung der Wittenberger reformatorischen Theologie durch Melanchthon in manchen Artikeln des Entwurfs deutlichen Niederschlag fand. Als der Landtagsentwurf durch den ehemaligen Melanchthonschüler Matthias Flacius Illyricus mit Kommentaren versehen als „Leipziger Interim“ gedruckt in die Öffentlichkeit gebracht wurde, spaltete dies die Anhänger Luthers und Melanchthons in einander bekämpfende Lager. Nun bildeten sich im Rhythmus der unterschiedlichen Streitigkeiten verschiedene, sich stets neu konstituierende Gruppierungen, die oft die strengen Lutheranhänger von denjenigen trennte, die sich als dezidierte Melanchthonschüler verstanden, gelegentlich aber auch beide Seiten in der Opposition gegen theologische Sonderlehren zusammenführten. Eingebunden in jeweils spezifische historische Konstellationen drehten sich im Grunde alle Kontroversen um die unausgesprochene Frage, in welcher inhaltlichen Ausprägung man die reformatorische Theologie Wittenberger Prägung an die kommenden Generationen weitergeben wollte: entweder in bewusster Konzentration auf die Lehre Martin Luthers oder in einer die Theologie Luthers und Melanchthons integrierenden Form oder aber in Betonung der von Melanchthon ausgegangenen Impulse für Lehre und Leben der Kirche. Insofern stellen die Streitigkeiten den Versuch dar, unter Rekurs auf die reformatorischen Autoritäten – Luther und/oder Melanchthon – zu einer theologischen Klärung zu gelangen. Sie waren ein wichtiger Faktor im Ringen um das reformatorische Erbe und im Streben nach konfessioneller Eindeutigkeit. Die Quellenedition „Controversia et Confessio“ dokumentiert und kommentiert diesen für die Bekenntnisbildung ausschlaggebenden Prozess.

Das Spektrum der diskutierten Themen war breit und weitgehend durch die Artikel des Augsburger Interims bzw. des Leipziger Alternativentwurfs vorgegeben. So kam z.B. die Frage nach der Rolle der guten Werke im Leben des Christen und damit im weitesten Sinne nach dem Stellenwert ethischen Handelns (= Majoristischer Streit, 1552-1558) in die Diskussion, außerdem die Frage nach dem Gebrauch des Gesetzes und damit nach dem „tertius usus legis“ als „usus paedagogicus“ und Gestaltungskraft christlichen Lebens. Diese Problemstellungen standen in engem Zusammenhang mit der Frage nach den Anwendungsbereichen von Gesetz und Evangelium, auch in Bezug auf die politisch-gesellschaftliche bzw. auf die geistliche Ebene (= Antinomistischer Streit, 3. Streitphase, 1556ff). Hinzu kam die Problematik des freien Willens, die eine Kontroverse darüber aufwarf, wie weit der Mensch überhaupt zum Guten fähig sei und eine freie Option für Gott entwickeln könne (= Synergistischer Streit). Dies wiederum hing eng mit dem christlichen Menschenbild zusammen, dessen Charakterisierung durch die Erb- oder Ursünde zwar allgemeiner Konsens war. Aber die Frage, ob der Mensch von ihr in substantieller Weise durchdrungen oder nur akzidentiell affiziert sei, entwickelte sich zu einer lang anhaltenden Auseinandersetzung (1560/61ff). Mit all diesen Themen standen im Grunde die Konturen der evangelischen Rechtfertigungslehre zur Debatte, die in der durch Andreas Osiander propagierten spiritualisierenden Fassung ebenfalls Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen bot. Der Erbsündenstreit und der Osiandrische Streit vermochten die je nach Diskussionsgegenstand in unterschiedliche Lager auseinanderfallenden Evangelischen noch einmal gegen einen gemeinsamen Gegner zu einen. Sowohl der streitbare und durch seine Erbsündenlehre einen Sonderweg gehende Matthias Flacius Illyricus als auch der nach der Einführung des Interims in Nürnberg nach Königsberg gezogene Andreas Osiander zogen die Ablehnung fast aller beteiligten Theologen auf sich, einerlei ob sie sich eher dem melanchthonischen oder lutherischen Lager zugehörig fühlten. Aber nicht nur die Rechtfertigungslehre, sondern auch das Sakramentsverständnis, vornehmlich die Abendmahlslehre mit ihrer christologischen Grundierung, sowie der Zusammenhang von Lehre und Zeremonien standen zur Debatte. Die sog. kryptocalvinistischen oder besser: (krypto-)philippistischen Streitigkeiten in Kursachsen (1570-1574) und ihr Ausgang führten vor Augen, welch ausschlaggebende Rolle der Zwei-Naturen-Lehre inzwischen für die konfessionell verschiedene Ausformulierung der reformatorischen Abendmahlslehre zukam. Sie stellten zugleich den nach wie vor engen Zusammenhang von politischen Optionen und theologischem Bekenntnis unter Beweis. Denn die definitive Hinwendung des Kurfürsten von Sachsen zu einer Abendmahlslehre lutherischer Prägung und die von ihm in Gang gesetzte Verfolgung der zum Calvinismus neigenden Philippisten in seinem Land vollzogen sich vor dem Hintergrund des erst kurz zurückliegenden Blutbads der Bartholomäusnacht in Frankreich. Diese Erfahrung beförderte nämlich die Sorge, angesichts einer von der Confessio Augustana invariata abweichenden Abendmahlslehre den Schutz des Augsburger Religionsfriedens, der ja nur für die Augsburger Konfessionsverwandten galt, womöglich aufs Spiel zu setzen. Die zwischen politischer Obrigkeit und reformatorischer Kirche aufbrechenden Reibungsflächen traten bei der Frage nach den Zeremonien noch deutlicher zutage. Denn dadurch daß das Augsburger Interim und mehr noch der Leipziger Kompromissvorschlag von 1548 die Wiedereinführung altgläubiger Zeremonien unter Beibehaltung evangelischer Lehre veranlasste, stand nicht nur das Problem der Freiheit kirchlicher Gebräuche zur Debatte, sondern auch das Ideal der Einheit bzw. Übereinstimmung von Lehre und Bekenntnis mit Kirchenverfassung und kirchlichen Riten. Hinzu kam die grundsätzliche Problematik des Verhältnisses von Kirche und Staat. Hatte die politische Obrigkeit überhaupt das Recht, in kirchliche Angelegenheiten einzugreifen, so wie sie das mit dem Interim und anderen Aktivitäten tat? War in Fällen, in denen das Bekenntnis auf dem Spiel stand, nicht ein kompromissloser Widerstand angebracht, selbst wenn man damit Vertreibung und Exil riskierte? Im Zuge der Auseinandersetzungen wurde das „Interim“ immer mehr zum Inbegriff aller obrigkeitlichen Eingriffe in religiöse Kultur schlechthin.

Die zu diesen Fragen in Gang gekommenen Klärungsprozesse arbeitet die Edition Controversia et Confessio auf und stellt die ausschlaggebenden Texte mit textkritischen und sachlichen Erläuterungen zur Verfügung. Eine ausführliche historische Einleitung findet sich in Controversia et Confessio 1: Reaktionen auf das Augsburger Interim. Der Interimistische Streit (1548-1549), hg. v. Irene Dingel, Göttingen 2010, S. 3-34.