Schimpfwort des Monats

Die Autoren der Streitschriften pflegten eine starke und sehr bildhafte Sprache. In einer Zeit, in der die Alphabetisierungsrate sehr niedrig lag, war es ein probates Mittel, den Gegner durch Beschimpfung wirksam und einprägsam zu charakterisieren und zu beschreiben, um so die eigene inhaltliche Argumentation zu verstärken. Die polemische Sprache ist auch als Ausdruck der starken inneren Beteiligung der Kontrahenten zu verstehen. An dieser Stelle werden einzelne Invektiven aus dem Schriftencorpus im Zitat nachgewiesen und erläutert.

Adiaphorist

(…) so haben wir nu eine zimliche lange zeit keine schrifft wider die Adiaphoristen, vmb friedens willen, ausgehen lassen, bis vns Menius dazu gedrungen hat (…). (Matthias Flacius Illyricus, Von den vornehmsten adiaphoristischen Irrtümern (1558), C 4r, unsere Edition Bd. 2, Nr. 9, S. 805,3–5).

„Melanchthon neigte zu einem Ausgleich zwischen Protestanten und Katholiken einerseits, Reformierten und Lutheraner (sic] andererseits und änderte demzuliebe die Augustana um. Nach den Schlägen des Schmalkaldischen Krieges verlor er eine Weile ganz den Halt und machte der Kirche weitgehende Zugeständnisse im Leipziger Interim.“ (Lepp, Schlagwärter, S. 41) So beschrieb Friedrich Lepp in seiner Auflistung der „Schlagwörter der Reformationszeit“ die Entstehung des Begriffs „Adia­phorist“. Ohne die Wertungen über Melanchthons Verhalten zu übernehmen, doch den Ausgangspunkt für die Entstehung des Schlagwortes ebenso in den innerprotestantischen Reaktionen im Umgang mit dem Augsburger Interim 1548 (Mehlhausen, Das Augsburger Interim) einerseits sowie in den Verhandlungen kursächsischer Theologen und Räte, die zum Leipziger Landtagsentwurf vom Dezember 1549 (PKMS 4, Nr. 212, S. 254–260; unsere Edition Bd. 2, Nr. 4, S. 357–441) führten, erkennend, äußert sich das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (Art. Adiaphorist, in: Fnhd.Wb. 1, Sp. 639f). 

Im Grimm‘schen Wörterbuch schließlich sucht man das Wort „Adiaphorist“ vergeblich. Allerdings findet sich dort ein Eintrag zu dem allgemeinen Begriff „Mittelding“, der demgemäß einen deutlich breiteren Ansatz verfolgt, indem der Gebrauch des Wortes in religiösem Kontext von Martin Luther bis Philipp Jakob Spener (1635–1705) angezeigt wird. Ein so eindeutiger Verweis auf das Schimpfwort „Adiaphorist“ in der Zeit um 1548 wie in vorhergenannten Werken fehlt gänzlich (Art. Mittelding 1–3, in: DWb 12, S. 2395f).

Dieser Befund suggeriert, dass der Begriff „Adiaphorist“ als Schmähbezeichnung in Bedeutung und Anwendungsbereich weitgehend statisch und klar definierbar gewesen sei. Doch gerade der Streit zwischen Matthias Flacius Illyricus und Justus Menius 1557/58 verdeutlicht, dass der Begriff „Adiaphorist“ mittlerweile eine deutliche Ausweitung in der Verwendung erfahren hatte.

Der Superintendent von Gotha, Justus Menius, geriet Mitte der fünfziger Jahre in den Verdacht, die These Georg Majors von der Notwendigkeit guter Werke zur Seligkeit verteidigt zu haben (vgl. unsere Edition. Bd. 3, Nr. 10 und 11). Doch dem Vorwurf des „Majorismus“ folgte unverzüglich ebenso der des „Adiaphorismus“. Als „Adiaphoristen“ wurden von Flacius, Amsdorf, Gallus und den Jenaer Theologen nunmehr alle ihre konfessionspolitischen Gegner pauschal gebrandmarkt. Sie entwickelten damit diesen Begriff zu einem Synonym für all diejenigen, die ihren Augen die Theologie Luthers nicht unverfälscht lehrten, einerlei worin genau der Ursprung für die tatsächlichen oder vermeintlichen Lehrunterschiede bestanden. Das Autorenkollektiv der „Wittenberger Studenten“, die ihre Professoren gegen Angriffe von Flacius in Schutz nehmen wollten, erkannten in dessen Verwendung des Begriffs „Adiaphora“ darum ein hohes Maß an Aggressivität, dem sie durch die Bezeichnung „Kriegsadiaphora“ Rechnung trugen (Die Wittenberger Studenten, Summa und kurzer Auszug aus den Actis synodicis (1560), O 4v, unsere Edition Bd. 2, S. 933,5). Dem Schmähwort „Adiaphorist“ erwuchs ab den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts eine erhebliche konfessionspolitische Bedeutung zu, besonders im ernestinischen Herzogtum Sachsen.

Weitere Literatur: unsere Edition Bde. 2 und 3; Gehrt, Ernestinische Konfessionspolitik, bes. S. 81–84.       (J. M. L.)

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