Schimpfwort des Monats

Die Autoren der Streitschriften pflegten eine starke und sehr bildhafte Sprache. In einer Zeit, in der die Alphabetisierungsrate sehr niedrig lag, war es ein probates Mittel, den Gegner durch Beschimpfung wirksam und einprägsam zu charakterisieren und zu beschreiben, um so die eigene inhaltliche Argumentation zu verstärken. Die polemische Sprache ist auch als Ausdruck der starken inneren Beteiligung der Kontrahenten zu verstehen. An dieser Stelle werden einzelne Invektiven aus dem Schriftencorpus im Zitat nachgewiesen und erläutert.

Epikurer, epikurisch

Kirke verwandelt die Gefährten des Odysseus in Schweine (Virgil Solis, Holzschnitt aus: PVB. OVIDII NASONIS Metamorphoseon libri XV. In singulas quasque fabulas argumenta, Francoforti ad Moenum MDLXVII. [VD 16 O 1651], S. 511)
Der Teufel hette nichts geschwinders [= Tückischeres], den waren Gottesdienst abzuthun vnd die kirch Christi vmbzukeren, erdencken können denn diese Mitteldingische linderung vnd verenderungen. Denn durch sie hatt er viel mehr ausgericht, denn er durch wüten vnd Tyrannisieren hette ausrichten konnen. Denn die Mitteldingische gifft hat solche krafft, das sie diejenigen, die sonst vberaus viel schwatzens können, gar stum, die beredten stammeln, die recht vnterrichteten zweifelhafftig vnd verwirret macht. Aus etlichen hirten macht sie wolffe, aus Christen Epicurer, die nirgent nach trachten denn allein nach guten tagen. Die verwandlung, welche Circe vorzeiten (wie man sagt) durch jhre zeuberische segen [= Zaubersprüche] vnd getrenck zuwegen brachte, ist nichts gegen dieser verwandlung, welche durch die Mitteldingische zeuberey ausgericht wird. Matthias Flacius Illyricus, Von wahren und falschen Mitteldingen (1550), unsere Ausgabe B. 2, Nr. 3, S. 159,6-16.

Epikurer nennen Flacius und seine Mitstreiter ihre Gegner, die bereit sind, einen sehr weiten Bereich kirchlicher Zeremonien als "Adiaphora" oder "Mitteldinge" zu qualifizieren, denen keine Bedeutung für die ewige Seligkeit zukomme, die vielmehr willkürlich geregelt werden könnten und bei denen man also auch den kaiserlichen Forderungen, wie sie im Augsburger Interim von 1548 erhoben und in der Leipziger Landtagsvorlage zu großen Teilen übernommen wurden, nachkommen könne, um gewaltsame Auseinandersetzungen zu vermeiden. Um des irdischen Wohlergehens willen geben die "Epikurer" die evangelische Wahrheit auf - so sehen es jedenfalls ihre Gegner. Die Bezeichnung spielt, ebenso wie das dazugehörige Adjektiv "epikurisch" auf den griechischen Philosophen Epikur (um 341 – um 270 v. Chr.) an, der in der abendländischen Vulgärrezeption als Vater des Lustprinzips ohne jegliche ethische Rückbindung galt und die Vorstellung ablehnte, es gebe ein Leben nach dem Tod. Die Bezeichnung "Epikurer" (heute ist "Epikureer" geläufiger) meint demnach Genussmenschen, die auf persönliches Wohlleben aus sind statt auf Erkenntnis der Wahrheit, ohne Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod.

Flacius nimmt hier außerdem Bezug auf eine Episode aus Homers Odyssee (X, 233–243), in der geschildert wird, wie die Zauberin Kirke/Circe einen Großteil der Mannschaft des Odysseus mit Hilfe eines Zaubertranks in Schweine verwandelt ("bezirzt"); indem sie sich auf ihre tierischen Instinkte reduzieren lassen, geben sie ihre Menschenwürde auf. Dementsprechend finden sich in unseren Texten auch mehrfach Ausdrücke wie "epikurische Säue" und dergleichen.

Vgl. Michael Erler, Art. Epikuros, in: DNP 3 (1997), 1130–1140; Tiziano Dorandi, Art. Epikureische Schule, in: DNP 3 (1997), 1126–1130.

(H.-O. S.)

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