Schimpfwort des Monats

Die Autoren der Streitschriften pflegten eine starke und sehr bildhafte Sprache. In einer Zeit, in der die Alphabetisierungsrate sehr niedrig lag, war es ein probates Mittel, den Gegner durch Beschimpfung wirksam und einprägsam zu charakterisieren und zu beschreiben, um so die eigene inhaltliche Argumentation zu verstärken. Die polemische Sprache ist auch als Ausdruck der starken inneren Beteiligung der Kontrahenten zu verstehen. An dieser Stelle werden einzelne Invektiven aus dem Schriftencorpus im Zitat nachgewiesen und erläutert.

Irrwisch, Teufelsirrwisch

Mocht aber ein guthertziger (wie mans nennet) sagen: Was schadets denn, das man Gottes wort hielte vnd liesse daneben diese stücke alle, oder je etliche, so leidlich weren, auch gleichwol bleiben? Antwort ich [Luther]: Es mügen guthertzige Leute heißen. Sie sind aber Jrrehertzige und verfürethertzige Leute. Denn du hörest, das nicht sein kan neben Gottes wort etwas anders leren, neben Gott einem andern dienen, neben dem Liecht, im finsternis von Gott gestellet, ein anders anzünden. Es ist gewislich ein Jrrewissch vnd  jrthumb, wens gleich ein einiges stück were. (Flacius, Wider den Auszug des Leipsischen Interims 1549, unsere Ausgabe Band 2, Nr. 1, S. 36,14-21; dort Zitat aus Luther, Wider Hans Worst, 1541).

Im Umgang mit dem sogenannten Augsburger (1548) und insbesondere mit dem Leipziger Interim (Leipziger Landtagsvorlage 1548/49) vertraten die von ihren Gegnern als solche apostrophierten "Adiaphoristen" (siehe dort) die Auffassung, so lange die Möglichkeit zur Verkündigung des Evangeliums gewahrt bleibe, könne man die Wiedereinführung altgläubiger Riten durchaus hinnehmen; Flacius führt das Zitat aus Luthers Schrift "Wider Hans Worst" von 1541 an als Beleg dafür, dass Luther solche Zugeständnisse nicht für akzeptabel hielt, vielmehr seien es Irregeleitete, die meinten, um des lieben Friedens willen vielerlei "neben" der Wahrheit dulden zu können; demgegenüber nimmt Luther hier Bezug auf das Erste Gebot: "... Du sollst keine anderen Götter haben neben mir." (Ex 20,3) Was "neben" dem Licht, das Gott zur Erhellung unserer Finsternis angezündet hat, ins Spiel gebracht wird, kann nur ein Irrlicht sein, das von der wahren Erkenntnis wegführt.

Das Wort "Irrwisch" bezeichnet eine aufsteigende Lichterscheinung von eher kurzer Dauer, wobei die Komponente "-wisch" wohl auf ein ungreifbares Hin- und Herbewegen weist [vgl Art. wischen A.5) und B), in: DWb 30,720-723]; auch die Ähnlichkeit mit einem kurz aufflackernden brennenden Strohwisch (vgl. DWb 19, 1681-1683) könnte eine Rolle spielen. Das Wort "Irrlicht" ist anscheinend erst später bezeugt, bei Grimm finden sich jedenfalls keine Belege aus dem 16. Jahrhundert (vgl. DWb 10, 2172).

Die genannten Lichterscheinungen sind angeblich nachts insbesondere im Spätherbst in sumpfigen und moorigen Gebieten beobachtbar, mutmaßlich von aufsteigenden leichtentzündlichen Faulgasen verursacht; es werden auch Glühwürmchen, bestimmte biolumineszente Pilzarten oder verrottendes und dabei phosphoreszierendes Holz als Ursache der Lichterscheinungen vermutet, die in den Volksaberglauben Eingang gefunden haben. Möglicherweise wurden auch - letztlich insgesamt selten auftretende - unterschiedlich verursachte Leuchtphänomene unter der einen Bezeichnung zusammengefasst. Man sah in den geisterhaften Erscheinungen mitunter ,brennende Seelen‘, welche nächtliche Wanderer ins Verderben führen. Wer das Leuchten irrtümlicherweise für eine Laterne oder für einen Hinweis auf eine Ansiedlung hielt, lief Gefahr vom sicheren Weg abzukommen und im Sumpf oder Moor zu versinken. (In gewisser Weise ist die Erscheinung der - freilich tagsüber bei sengender Sonne auftretenden - trügerischen Luftspiegelung in Wüstengebieten vergleichbar, die unter der Bezeichnung Fata Morgana bekannt ist.) Im übertragenen Sinne, als verführerisches Trugziel, das die Gläubigen vom rechtgläubigen Weg des Heils abbringt, begegnet die Bezeichnung öfters bei Luther und seinen Anhängern. Sowohl die Lehren der papsttreuen Kirche als auch die abweichender protestantischer Richtungen werden als Irrwisch bezeichnet. Dabei sieht man den Teufel als eigentlichen Urheber der Irrlehren; das unterstreicht die Fügung "Teufelsirrwisch": "Warümb lesst man denn daheimen eigen Pfarr, Gotts wort, weib und kind etc., die nötig und geboten sind, und leufft den unnötigen, ungewissen, schedlichen Teufels irrwisschen nach, On das der Teufel den Bapst geritten hat, solchs zu preisen und bestetigen, damit die Leute ja heuffig von Christo auff ire eigen werck fielen und Abgöttisch wurden, welchs das ergeste dran ist?" (Luther, Schmalkaldische Artikel, 1537; BSELK 734,23-28).

Ranke, Friedrich: Art. Irrlicht, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 4, Berlin 1932, 779-785.

Art. Irrwisch, in: DWb 10, 2180.

(H.-O. S., unter Verwendung von Vorarbeiten von Sven Dittmar, Praktikant in der Arbeitsstelle des Projekts im September 2017)

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