Schimpfwort des Monats

Die Autoren der Streitschriften pflegten eine starke und sehr bildhafte Sprache. In einer Zeit, in der die Alphabetisierungsrate sehr niedrig lag, war es ein probates Mittel, den Gegner durch Beschimpfung wirksam und einprägsam zu charakterisieren und zu beschreiben, um so die eigene inhaltliche Argumentation zu verstärken. Die polemische Sprache ist auch als Ausdruck der starken inneren Beteiligung der Kontrahenten zu verstehen. An dieser Stelle werden einzelne Invektiven aus dem Schriftencorpus im Zitat nachgewiesen und erläutert.

Pragmosiner

Wer hat euch befohlen, Gottes werck vnd that, durch den Man Gottes Lutherum angericht, durch ewre kunst vnd weisheit zu mutiren? Seine Schüler solt jr blieben sein, vnd helffen erhalten, was Gott durch jn gewircket hatte. Dazu waret jr beruffen, vnd nicht weiter. So faret jr zu, aus eigener vermessenheit, als rechte pragmosiner, vnd falt dem Luther in sein Ampt vnd greifft jm in sein werck, allein darumb, das jr in Kunsten vnd Philosophia hochgelart seid. Wolt derhalben der Kirchen Meister vnd Regierer sein, so jr doch wol wisset, das Gott nicht die weisen noch hochgelerten, sondern die vngelerten vnd albern, seine Kirche zu bawen vnd pflantzen, beruffen hat. Nikolaus von  Amsdorf, Dass D. Pfeffinger seine Missetat böslich und fälschlich leugnet, 1559 (unsere Ausgabe Bd. 5, Nr. 6, S. 190,4-13)

Nikolaus von Amsdorf wirft den Wittenberger Theologen um Johann Pfeffinger vor, das Reformationswerk Luthers zu stören und zu verderben durch Neuerungssucht und ungebetene Einmischung in zuvor wohlgeordnete Verhältnisse; die Motivation dafür findet Amsdorf in der von ihm behaupteten ausgeprägten Berufung auf eine philosophischen Bildung in theologischen Fragen und Angelegenheiten durch die Gegner, derentwegen sie an den überlieferten Lehrinhalten in ungebührlicher und unsachgemäßer Weise scheinbare Verbesserungen, tatsächlich aber verderbliche Entstellungen vornähmen. Er nennt sie darum "Pragmosiner".

Dieses Wort geht auf den griechischen Wortstamm πραγ- (prag-) zurück, von dem auch Praxis, pragmatisch u. dgl. abgeleitet sind, und der "tun, machen" bedeutet. Amsdorfs Bezeichnung "Pragmosiner" ist anscheinend eine Ableitung von dem griechischen Begriff πολυπραγμοσύνη (polypragmosyne)= Vielgeschäftigkeit, unnütze Vieltuerei, unerwünschte Einmischung, Vorwitz; Neuerungssucht; kleinliche Weitläuftigkeit und Umständlichkeit (Passow II/1, 1010[a]) bzw. in ganz ähnlicher Bedeutung φιλοπραγμοσύνη (philopragmosyne) = Vielgeschäftigkeit, Prozesssucht, Händelsucht, Einmischung in fremde Angelegenheiten (Passow II/2, 2281[b]).

"Pragmosiner" wäre demnach etwa zu umschreiben als "Querulant, einer der sich ungebeten in fremde Angelegenheiten einmischt, Umstandskrämer, jemand, der mit eigenen Projekten anderen Arbeit macht" etc. Zu erinnern wäre etwa auch an das angeblich chinesische Sprichwort: "Es gibt Menschen, die Fische fangen, und solche, die nur das Wasser trüben." Der Pragmosiner macht zwar Wirbel und erregt Aufsehen, bringt aber nichts Positives zuwege, sondern hält im günstigeren Fall andere von sinnvoller Arbeit ab, indem er sie mit überflüssigen Dingen beschäftigt, im ungünstigeren Fall wirkt er sogar zerstörerisch.

Aufschlussreich sind auch die Ausführungen bei Passow zum Stichwort πολυπράγμων (polypragmon) = mit vielen Angelegenheiten od. Händeln beschäftigt, viel beschäftigt; gewöhnlich mit tadelndem Nebenbegriff: der sich unberufen in vielerlei Dinge mischt, die ihn nichts angehen, bes. der sich aus Vorwitz, Neugier, zänkischer Geschäftigkeit in die Angelegenheiten anderer einmengt, vorwitzig, naseweis, neugierig u. dgl.; auch: neuerungssüchtig; kleinlich, umständlich. Vorzüglich verhasst war der πολυπράγμων als Stänker und unruhiger Querkopf allen Ruhe und Ordnung liebenden Bürgern. (Passow II/1, 1010[a])

(H.-O. S.)


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