Schimpfwort des Monats

Die Autoren der Streitschriften pflegten eine starke und sehr bildhafte Sprache. In einer Zeit, in der die Alphabetisierungsrate sehr niedrig lag, war es ein probates Mittel, den Gegner durch Beschimpfung wirksam und einprägsam zu charakterisieren und zu beschreiben, um so die eigene inhaltliche Argumentation zu verstärken. Die polemische Sprache ist auch als Ausdruck der starken inneren Beteiligung der Kontrahenten zu verstehen. An dieser Stelle werden einzelne Invektiven aus dem Schriftencorpus im Zitat nachgewiesen und erläutert.

Mietling

Christus als der gute Hirte. Lucas Cranach d. J, Epitaph Drachstedt (1573), Stadtkirche Wittenberg
O dieses sind alzu zarte marterer [= allzu verweichlichte Glaubenszeugen], die des Herrn Christi herd, allein wens fried im Lande ist, also hin vmb lohn hüten, so sie aber sehen, das sich der Wolff herzunahet, thun sie, wie der mitling art ist, nemlich schweigen odder fliehen daruon. Johannes Waremundus (Matthias Flacius Illyricus), Eine gemeine Protestation (1548), unsere Ausgabe Bd. 1, Nr. 5, S. 178,1-4.

Das Wort "Mietling" gehört zu der nicht kleinen Gruppe von Invektiven, die aus der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments geschöpft wurden; nicht zuletzt die von Luther und seinen Wittenberger Mitstreitern unternommene Übersetzung der Bibel ins Frühneuhochdeutsche brachte manche treffende Sprachprägung mit sich, die man auch im täglichen Umgang nicht mehr missen wollte.  Als Mietling wird ein angestellter Hirte bezeichnet, der gegen Entgelt die Schafe eines oder mehrerer fremder Eigentümer hütet. Von ihm ist nicht zu erwarten, dass er die ihm anbefohlenen Schafe gegen die Angriffe von Raubtieren, etwa Löwen, Bären oder Wölfen, unter Gefahr des eigenen Lebens verteidigt. Vielmehr wird er in erster Linie an sich selbst denken und die Herde im Zweifel im Stich lassen. Anders verhält sich nach einem im Evangelium nach Johannes, Kap. 10, V. 12f, überlieferten Wort Jesu der gute Hirte, der als Eigentümer der Schafe ein vitales Interesse am Überleben und am Wohlergehen jedes einzelnen seiner Tiere hat.

Als das Augsburger Interim 1548 von den protestantischen Pfarrern und Predigern eine nahezu vollständige Rückkehr zum altgläubigen Kultus verlangte, sahen sie sich vor die Frage gestellt, wie sie sich verhalten sollten, insbesondere wenn Gemeinden aus Furcht vor militärischen Repressalien des Kaisers das Interim gezwungenermaßen annahmen. Diejenigen, die einen sehr weiten Begriff von "Mitteldingen" hatten, die man dem Kaiser zugestehen könne, ohne die evangelische Wahrheit zu verleugnen, sahen es als ihre Pflicht an, auf ihren Posten auszuharren und sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. Diejenigen, die in den geforderten Zugeständnissen einen Verrat am Evangelium sahen, verließen ihre Stellen und flohen vor der kaiserlichen Unterdrückung. Matthias Flacius Illyricus setzte sich vor diesem Hintergrund mehrfach mit der Frage auseinander, welche Haltung tatsächlich die des Mietlings sei, und kam zu dem Schluss, dass man in der Gemeinde ausharren sollte, solange die Gemeinde das lautere Evangelium verkündet haben möchte und bereit ist, notfalls auch Leiden dafür auf sich zu nehmen, dass man andernfalls aber besser für das Wohl der Herde sorge, wenn man nicht mit den Wölfen paktiere und ihnen die Herde nicht in die Fänge treibe, sondern vor ihnen warne. Wer den Wölfen Fenster und Türen auftue, der gebe den Schafstall des Herrn preis, auch wenn er inmitten der Herde des Herrn ein stattliches Haus bewohne und niemals von dort weiche. Hingegen stünden diejenigen der Kirche bei, die an den Glaubenswahrheiten festhielten und Kirche und Religion, sei es durch Gebet, durch Belehrung, durch das Erdulden von Ausweisung, Armut und Schmähungen oder auf andere Weise, verteidigten und vor Irrtümern und Zweifelhaftigkeiten schützten, selbst wenn sie deshalb jährlich mehrmals aus ihrem Wohnsitz bis in die Türkei vertrieben würden (vgl. unsere Ausgabe Bd. 2, Nr. 2[c], S. 106-110, und Nr. 3, S. 329,23-335,14).    (H.-O. S.)

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