Schimpfwort des Monats

Die Autoren der Streitschriften pflegten eine starke und sehr bildhafte Sprache. In einer Zeit, in der die Alphabetisierungsrate sehr niedrig lag, war es ein probates Mittel, den Gegner durch Beschimpfung wirksam und einprägsam zu charakterisieren und zu beschreiben, um so die eigene inhaltliche Argumentation zu verstärken. Die polemische Sprache ist auch als Ausdruck der starken inneren Beteiligung der Kontrahenten zu verstehen. An dieser Stelle werden einzelne Invektiven aus dem Schriftencorpus im Zitat nachgewiesen und erläutert.

Flacianer, flacianisch

"Jch bin auch niemals willens gewesen, solche Disputation auszubreiten, geschweige, das ich sie solt ausgebreitet haben, wie mir Flacius mit vnwarheit auffgetichtet [was Flacius fälschlich, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von mir behauptet], vnd weis furwar, wann die Flacianer Rotte (die doch solche Disputation von mir nicht bekomen hat) sie so wenig ausgebreitet hette als ich, es würdens bis vff diesen heutigen tag wenig Leute gesehen haben." (Justus Menius, Kurzer Bescheid Justi Menii (1557), unsere Ausgabe Bd. 3, Nr. 11, S. 437,27)

Im Jahr 1554 hatte Justus Menius in der von Georg Major aufgeworfenen Frage zur Notwendigkeit von guten Werke zur Seligkeit einige Thesen an Erhard Schnepff gesandt, um seine Position darzulegen. Schnepff reichte diese vertraulich übersandte Thesenreihe an Nikolaus von Amsdorf und Johann Stoltz weiter. Damit vertiefte sich der bereits vorhandene Streit zwischen Menius und Schnepff, Amsdorf und Stoltz in dieser Angelegenheit (vgl. Gustav Lebrecht Schmidt, Justus Menius, der Reformator Thüringens, Gotha 1867 (2 Bde., ND Nieuwkoop 1968), hier: II, 187f.). Ohne die Thesenreihe von Menius empfangen zu haben, verwendet Flacius diese dann in einer Veröffentlichung gegen Menius, um damit seine angeblichen Lehrveränderungen nachzuweisen (vgl. Flacius, Die alte und neue Lehr Justi Menii, A 4v, in: unsere Ausgabe Bd. 3, Nr. 10, S. 403.).

Die Bildung des Begriffs "Flacianer" wird in der Forschungsliteratur unter Rückgriff auf die Situation im ernestinischen Herzogtum Sachsen bislang ungefähr auf den Zeitraum von 1561 bis 1580 datiert. Damit wird der Streit um die Erbsündenlehre des Flacius als Ausgangspunkt der Begriffsbildung angesehen. In der Forschung wird betont, dass "Flacianer" als Kampfbegriff verwendet wurde, mit dem nicht allein eine Personengruppe als Anhänger des Flacius bezeichnet werden sollte, sondern der dazu diente, theologische Gegner als "Aufrüher", "Unruhestifter", als Teil einer "Sekte der besserwisserischen Irrlehrer mit unmoralischem Lebenswandel" zu brandmarken. Je länger die verschiedenen Kontroversen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts andauerten, je mehr verwischte jedoch die Konturierung des Begriffs, so dass er schließlich als relativ unspezifischer, schlicht pejorativer Ausdruck für die jeweils eigenen Gegner Verwendung fand.

Das hier gewählte Beispiel zeigt jedoch, dass Menius den Begriff bereits 1557  verwendete. Er stellt damit im Kontext des albertinischen Kurfürstentums Sachsen keine Ausnahme für eine so frühe Verwendung dar, wie Belegstellen in Veröffentlichungen von Johann Pfeffinger aus den Jahren 1558/59 sowie die exessive Verwendung des Begriffs durch die Wittenberger Studenten 1560 verdeutlichen (vgl. Johann Pfeffinger, Antwort (1558), unsere Ausgabe Bd. 5, Nr. 5, S. 159,3 / Johann Pfeffinger, Nochmals gründlicher und wahrhaftiger Bericht (1559), unsere Ausgabe Bd. 5, Nr. 7, S. 262,33 / Wittenberger Studenten, Summa und kurzer Auszug aus den Actis synodicis (1560), unsere Ausgabe Bd. 2, Nr. 10, passim).

Sollten keine noch früheren Zeugnisse für die Verwendung des Begriffs "Flacianer" gefunden werden, so ist davon auszugehen, dass die Begriffsbildung im kursächsischen Kontext demnach bereits in der zweiten Hälfte der 1550er Jahre vorgenommen wurde. Begünstigt wurde diese Entwicklung sicherlich durch die gescheiterten Vergleichsverhandlungen zwischen Philipp Melanchthon und Matthias Flacius in Coswig zu Beginn des Jahres 1557 sowie durch die Erfahrungen während des Wormser Religionsgesprächs 1557, als die ernestinischen Delgierten auf einer namentlichen Verdammung der Irrlehren auch und gerade der Lehre von den Adiaphora beharrten (vgl. dazu Benno von Bundschuh, Das Wormser Religionsgespräch von 1557 unter besonderer Berücksichtigung der kaiserlichen Religionspolitik, Münster 1988 (RGST 124) / Björn Slenczka, Das Wormser Schisma der Augsburger Konfessionsverwandten 1557. Protestantische Konfessionspolitik und Theologie im Zusammenhang des zweiten Wormser Religionsgesprächs, Tübingen 2010).

Den Kursachsen wurde es nun möglich, ihre Gegner mit Hilfe des Kampfbegriffs "Flacianer" für die Leserschaft eindeutig abwertend zu kennzeichnen und damit den gegen sie ins Feld geführten Begrifflichkeiten, z.B. "Adiaphorist" (vgl. unseren Artikel dazu), "Interimist" (vgl. unseren Artikel dazu) mit einem eigenen Schlagwort zu begegnen. Mit "Flacianer" wurden die Gegner der kursächsischen Theologen der Leserschaft als "Lügner", "Irrlehrer" und "Spalter" beschrieben und immer wieder vorgestellt. 

Gerne wurde "Flacianer" oder "flacianisch" in Verbindung mit "Haufen" oder, wie in unserem Beipiel, mit "Rotte" verwendet. Dies ist insofern bedeutsam, als das Wort "Rotte" im Zuge der Auseinandersetzungen Martin Luthers mit den Bauern und innerevangelischen Gegnern in den 1520er Jahren (z.B. Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt oder Thomas Müntzer) selbst zum Kampfbegriff wurde, mit dem eine Gruppe Aufrührer bezeichnet werden sollte (vgl. dazu unseren Artikel "Rotte, Rottengeister, Rottgesellen, Rottenmeister").

Eben in diesem Sinn zur Bezeichnung einer Gruppe aufrührerischer, verlogener Spalter der Kirche ist die Verrwendung bei Menius aber auch bei Pfeffinger und den Wittenberger Studenten zu verstehen. Die Wittenberger Studenten betrieben 1560 sogar bereits Wortspiele mit dem Begriff "Flacianer", wenn sie Flacius und Nikolaus Gallus als "Filcianer" bezeichneten (vgl. dazu unseren Artikel "Filcianer").

Daher scheint es sinnvoll, den Begriff als zunächst im albertinisch-kursächsischen Kontext geprägt anzusehen, der dann im Zuge der Auseinandersetzung über die Erbsündenlehre des Flacius Eingang in den ernestinisch-herzoglichen Streitzusammenhang fand, wo leichte Verschiebungen in der Bedeutung vorgenommen wurden, bis er schließlich Ende der 1560er oder zu Beginn der 1570er Jahre eine Bedeutungsdiffusion erfuhr und als schimpfliche Bezeichnung von Gegnern allgemein Anwendung fand.

Lit.:

Daniel Gehrt, Ernestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577, Leipzig 2011 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 34), bes. 242244, S. 264266.

Stefan Michel, Gab es einen Flacianismus? Begriffsgeschichtliche Erkundungen, in: Irene Dingel, Johannes Hund, Luka Ilic (Hg.) unter Mitarbeit von Marion Bechtold-Mayer, Matthias Flacius Illyricus. Biographische Kontexte, theologische Wirkungen, historische Rezeption, Göttingen 2019 (VIEG Beiheft 125), S. 283293.

[J.M.L.]

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