Schimpfwort des Monats

Die Autoren der Streitschriften pflegten eine starke und sehr bildhafte Sprache. In einer Zeit, in der die Alphabetisierungsrate sehr niedrig lag, war es ein probates Mittel, den Gegner durch Beschimpfung wirksam und einprägsam zu charakterisieren und zu beschreiben, um so die eigene inhaltliche Argumentation zu verstärken. Die polemische Sprache ist auch als Ausdruck der starken inneren Beteiligung der Kontrahenten zu verstehen. An dieser Stelle werden einzelne Invektiven aus dem Schriftencorpus im Zitat nachgewiesen und erläutert.

Interim

Interims-Schnelle, Spottkrug auf das Interim (als Teufel dargestellt), Standort/Foto: Kunstgewerbemuseum, Staatliche Museen zu Berlin, Ident.-Nr. K 1381, Fotografin: Saturia Linke [(c) BY-NC-SA]
Sie haben mit jhrem Interim vnnd newer ordenung grosse ergernis, trennung vnnd spaltung angericht, die Kirchen zuruttet vnd geergert, die gewissen verirret, vnnd solchen schaden gethan, das die Kirchen Christi nimmermehr vberwinden werden. (Nikolaus von Amsdorf, Dass D. Pommer und D. Maior Ärgernis und Zertrennung angericht (1552), unsere Edition Bd. 2, Nr. 8, S. 762, 4–8).

Kaiser Karl V. erließ nach seinem militärischen Triumph über das evangelische Verteidigungsbündnis (Schmalkaldischer Bund) im Schmalkaldischen Krieg 1546/47 während des Augsburger Reichstages 1548 ein Religionsgesetz, mit dem er die Religions- und Kultuseinheit im Reich bis zu einem endgültigen Konzilsentscheid vorläufig (lat. interim) wieder herstellen wollte. Aufgrund des Widerstands der romtreuen Reichsstände gegen das Religionsgesetz trat dieses nur für die besiegten Evangelischen im Reich in Geltung. Außer dem Zugeständnis der Priesterehe und des Laienkelchs im Abendmahl sollten diese jegliche Veränderungen in Lehre und Liturgie zurücknehmen.

Dagegen erhoben die Evangelischen umgehend Protest, doch Karl V. drohte ihnen mit dem Einsatz seiner noch im Reich stehenden Truppen, sollten sie die Bestimmungen des Augsburger Interims nicht umsetzen. In dieser angespannten Lage erwarteten die Evangelischen gerade aus dem Kurfürstentum Sachsen und von den Wittenberger Theologen Führung und Orientierung. Doch Moritz, der neue Kurfürst von Sachsen, der aufseiten des Kaisers den Schmalkaldischen Krieg bestritten hatte und als Lohn dafür die Kurwürde seines Vetters Johann Friedrich übertragen bekommen hatte, besaß gute Gründe, keine offene Opposition gegen die kaiserliche Religionspolitik zu betreiben. Vielmehr ließ er seine Räte mit den Wittenberger Theologen Verhandlungen darüber führen, wie man dem Kaiser entgegenkommen könne, ohne jedoch den Kernbestand der evangelischen Lehre aufzugeben.

Als Ergebnis dieses zähen Aushandlungsprozess zwischen den politischen Beratern des Kurfürsten und den Wittenberger Theologen wurde den kursächsischen Landständen schließlich auf dem Landtag zu Leipzig 1548/49 ein Dokument, die Leipziger Landtagsvorlage, präsentiert. Darin wurden diverse Veränderungen im Kultus (Wiedereinführung liturigischer Gesänge, Tragen des Chorrocks usw.) gerechtfertigt, da es sich dabei ausschließlich um Adiaphora handele, also für das Heil des Einzelnen unmaßgebliche, freigelassene Mitteldinge.

Während die Wittenberger den Text im Sinne einer Tischvorlage für die versammelten Landstände ansahen und in der angespannten reichspolitischen Situation als ein Dokument des guten Willens und der Friedensliebe charakterisierten, bezeichneten ihre Gegner das Schriftstück rasch als "Leipziger Interim". Das Papier wurde damit von diesen geschickt mit dem bei den Evangelischen allgemein verhassten Augsburger Interim verknüpft. Durch die Übertragung des Wortes "Interim" aus dem Kontext der kaiserlichen Reichsreligionspolitik auf die kursächsischen Kirchenpolitik wurde für die Leserschaft der bereits vorhandene Subtext zu diesem Begriff - also Zwang, Drohung, politische Anmaßung, Verrat am evangelischen Bekenntnis, Opferung der göttlichen Wahrheit - mitgeliefert. Die Botschaft der Gegner war demnach, dass der sächsische Kurfürst mit dem "Leipziger Interim" ebenso eine illegitime Überschreitung der Grenze zwischen Politik und Religion vornahm, wie der Kaiser mit dem Augsburger Interim.

In der Folge wurde das Wort "Interim" in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt, um gegenüber der Leserschaft ein als widerrechtlich, ärgerlich und kirchenspalterisch empfundenes Verhalten anzuprangern, ohne dabei längere Argumentationsgänge zu benötigen: So wendete sich Matthias Flacius Illyricus 1558 mit der ungedruckt gebliebenen Schrift „Refutatio Samaritani Interim“ gegen die  Einigungsbemühungen Philipp Melanchthons im Frankfurter Rezess (Preger, Flacius 2, 74; Dingel, Flacius als Schüler Luthers und Melanchthons, 88). Es war Erasmus Alber, der den Begriff personalisierte, um auf diese Weise einen der Mitverfasser das Augsburger Interims, Johann Agricola, zu diffamieren, als er ihn als "Grickel Interim" bezeichnete. Spielte dies zum einen auf seinen Namen "Agricola" und seine Mitverfasserschaft an, so wurde er durch die Verwendung des Wortes "grickeln" zudem als "launische, nie zufriedene Person" dargestellt (Erasmus Alber, Von Grickel Interim (1548), unsere Edition Bd. 1, Nr. 18, S. 887–892). Und Flacius diskreditierte Joachim Camerarius d.Ä., indem er ihn als "D[oktor] Interim" bezeichnete (Matthias Flacius Illyricus, Von wahren und falschen Mitteldingen (1550), unsere Edition Bd. 2, Nr. 3, S. 133,16f , mit Anm. 4).

Die Wirkmächtigkeit dieses Deutungsgehalts für das Wort "Interim" wird daran ersichtlich, dass noch im 18. Jahrhundert ein Werk erschien, in dem die Ergebnisse des Regensburger Religionsgesprächs von 1541, das Augsburger Interim 1548 und die Leipziger Landtagsvorlage ("Leipziger Interim") als "Dreifaches Interim" bezeichnet wurden.

Lit.:

Johann Erdmann Bieck, Das Dreyfache Interim So in Regenspurg, Augspurg und Leipzig Zur Vereinigung der Päpstlichen und Evangelisch-Lutherischen Lehre nach der Reformation zum Vorschein gekommen: Darinnen ein jedes wegen seiner Rarität an das Licht gestellet, hinlänglich widerleget, und demselben nicht allein eine umständliche Interims-Historie, So den Ursprung, Fortgang und Ausgang des Streits abhandelt, ... sondern auch die Lebens-Beschreibungen derer fürnehmsten bey dem Interim und Adiaphorismo interessirten Personen kürtzlich beygefüget, Und endlich die Articul des Welt-bekannten Religions-Friedens ... angehänget werden / Zur Erläuterung der Reformations-Historie mit Fleiß ausgearbeitet von M. Joh. Erdmann Bieck, Diacono bey der Haupt-Kirche zu S. Andr. in Eißleben, Leipzig 1721 (VD 18 10312781); weitere Auflage (VD 18 11371927).

Irene Dingel, Flacius als Schüler Luthers und Melanchthons, in: Vestigia pietatis. Studien zur Geschichte der Frömmigkeit in Thüringen und Sachsen. Ernst Koch gewidmet, hg. v. Gerhard Graf u. a., Leipzig 2000 (HerChr. Sonderband 5), 77–93.

Wilhelm Preger, Matthias Flacius Illyricus und seine Zeit, 2 Bde. Erlangen 1859–1861 (ND Hildesheim, Nieuwkoop 1964).

(J.M.L.)

 

 

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