Schimpfwort des Monats

Die Autoren der Streitschriften pflegten eine starke und sehr bildhafte Sprache. In einer Zeit, in der die Alphabetisierungsrate sehr niedrig lag, war es ein probates Mittel, den Gegner durch Beschimpfung wirksam und einprägsam zu charakterisieren und zu beschreiben, um so die eigene inhaltliche Argumentation zu verstärken. Die polemische Sprache ist auch als Ausdruck der starken inneren Beteiligung der Kontrahenten zu verstehen. An dieser Stelle werden einzelne Invektiven aus dem Schriftencorpus im Zitat nachgewiesen und erläutert.

Lügenmaul

Herr, errette meine Seele von Lügenmeulern vnd von den falschen Zungen. (Nikolaus Gallus, Gegenbericht auf D. Pfeffingers Glossen (1550), unsere Ausgabe Bd. 2, 741,1)

Mit diesem Zitat aus Ps 120 (Ps 120,2) begann Nikolaus Gallus seine Schrift gegen Johann Pfeffingers Verteidigung der Wittenberger Position im Streit um die Adiaphora (vgl. dazu unsere Ausgabe Bd. 2). In den Kontroversen des Reformationszeitalters beanspruchten alle Seiten für sich, die objektive religiöse Wahrheit zu vertreten. Daher mussten zwangsläufig Gegenpositionen falsch, lügnerisch und ketzerisch sein. In dieser Situation besaß der Begriff der „Lüge“ eine Bedeutungsverwandtschaft mit dem der „Lästerei“. Da Pfeffingers Ansichten in den Augen von Gallus Lügen waren, bezeichnete er ihn hier einerseits als jemanden, der Lügen verbreitete, eben ein „Lügenmaul“. Er implizierte andererseits, dass Pfeffinger ein „Lästerer“ sei, also jemand, der Andere verleumde und schmähe – damit meinte Gallus freilich sich selbst – und der von der wahren Lehre abgefallen sei und Gott lästere. Damit wurde Pfeffinger zu einer widerchristlichen Figur stilisiert. Die Wirkung des Begriffs wurde durch seine biblische Legitimation zusätzlich erhöht.

Der Begriff „Lügenmaul“ konnte auch in personifizierter Form („Lügenmaulus“) begegnen. Matthias Flacius hatte unter dem Pseudonym „Johannes Wahrmund“ eine Schrift gegen das kaiserliche „Augsburger Interim“ von 1548 herausgebracht, in der er auch die Kompromissbereitschaft der Wittenberger Theologen, voran diejenige Philipp Melanchthons, gegenüber Kaiser Karl V. als Versuch brandmarkte, Himmel und Hölle, Christus und Belial zu vereinen (vgl. unsere Ausgabe Bd. 1, 175,25 – 176,7). Bereits durch das Pseudonym versuchte Flacius, den Lesern die Rechtschaffenheit des Autors und damit die Rechtmäßigkeit seiner Anliegen vor Augen zu führen. Jahre später spielten die „Wittenberger Studenten“ polemisch mit dem Pseudonym „Wahrmund“, indem sie ihm den Begriff „Lügenmaulus“ gegenüberstellten, um damit Flacius mit allen oben genannten Implikationen des Begriffs zu diskreditieren (vgl. Wittenberger Studenten, Summa und kurzer Auszug aus den actis synodicis (1560), unsere Ausgabe Bd. 2, 904,3f).

Weitere Literatur: Art. 1Lästerer, in: Fnhd.Wb. 9,1, 345f; Art. Lüge, lügen 1), in: Fnhd.Wb. 9,1, 1446f; Schimpfwortartikel „Ruffian“                                  (J.M.L.)

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