Schimpfwort des Monats

Die Autoren der Streitschriften pflegten eine starke und sehr bildhafte Sprache. In einer Zeit, in der die Alphabetisierungsrate sehr niedrig lag, war es ein probates Mittel, den Gegner durch Beschimpfung wirksam und einprägsam zu charakterisieren und zu beschreiben, um so die eigene inhaltliche Argumentation zu verstärken. Die polemische Sprache ist auch als Ausdruck der starken inneren Beteiligung der Kontrahenten zu verstehen. An dieser Stelle werden einzelne Invektiven aus dem Schriftencorpus im Zitat nachgewiesen und erläutert.

Narr

Sebastian Brant, Narrenschiff, Illustration von 1494 (?)
Brüstungsfeld am Goldenen Dachl in Innsbruck: Kaiser Maximilian I. mit Hofnarr und Kanzler.
Berlin muß witzeln, grickeln vnd geckeln haben. Was zu Wittemberg nichts taugt, das ist in der Marck köstlich ding. „Grosse narren“, sagt D. Martinus Luther, „müssen grosse schellen haben.“ Erasmus Alber, Dialogus vom Interim (1548), unsere Ausgabe Bd. 1, Nr. 11, S. 563,11-13.

Berlin war die Residenz des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg. Er ist mit dem großen Narren gemeint. Eine von dessen großen Schellen ist Johann Agricola, den der Kurfürst zu seinem Hofprediger und dann auch zum Generalsuperintendenten der Mark Brandenburg berufen hatte (vgl. die Abbildung zum Schimpfwort "Bauchknecht"). Erasmus Alber zitiert durchaus sachgemäß aus einem Brief Luthers vom 11. Januar 1541. Wenn er einleitend von "witzeln, grickeln und geckeln" schreibt, so sind darunter zunächst allgemein "Spötter, Nörgler und vorlaute Schwätzer" zu verstehen, er zielt aber zugleich auf konkret identifizierbare Gegner:  neben dem bereits genannten Johann Agricola aus Eisleben (Grickel), der an der Abfassung des Augsburger Interims von 1548 beteiligt gewesen war, auf Georg Witzel aus Vacha, der sich von der Reformation wieder abgewandt hatte, und auf Jakob Schenck aus (Bad) Waldsee (von Luther meist Jeckel genannt), der (ähnlich wie auch Agricola) wegen der Frage der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium mit den Wittenbergern in Konflikt geraten war.    

Der Narr mit Schellen an seiner Kappe begegnet heute noch im Fastnachtsbrauchtum oder beim Kasperletheater. Ehedem gab es die Hofnarren, die der Hofgesellschaft wie ihren jeweiligen Herren unter dem Schein des Spaßhaften oder Verrückten auch unbequeme Wahrheiten sagen durften, ohne gleich Strafe fürchten zu müssen - sie genossen "Narrenfreiheit" (wobei sie freilich der Willkür ihrer fürstlichen Herren unterstanden). Berühmt war etwa Claus Narr, ein Hofnarr Friedrichs des Weisen von Sachsen. Luther ging so weit, das Amt des Predigers mit dem des Hofnarren zu vergleichen (An den christlichen Adel 1520), wofür der heilige Paulus im 1. Korintherbrief allerdings schon eine Steilvorlage liefert. In I Kor 4,10 schreibt er über sich und seine Mitapostel: "Wir sind Narren um Christi willen." [Man vgl. aber auch Mt 5,22.]

(H.-O. S.)

 

 

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