Schimpfwort des Monats

Die Autoren der Streitschriften pflegten eine starke und sehr bildhafte Sprache. In einer Zeit, in der die Alphabetisierungsrate sehr niedrig lag, war es ein probates Mittel, den Gegner durch Beschimpfung wirksam und einprägsam zu charakterisieren und zu beschreiben, um so die eigene inhaltliche Argumentation zu verstärken. Die polemische Sprache ist auch als Ausdruck der starken inneren Beteiligung der Kontrahenten zu verstehen. An dieser Stelle werden einzelne Invektiven aus dem Schriftencorpus im Zitat nachgewiesen und erläutert.

Schneiderkönig

Heinrich Aldegrever: Jan van Leiden als König der Täufer in Münster (1536)

Im Jahr 1559 veröffentlichten die "Wittenberger Professoren" eine überaus umfangreiche Sammlung von Briefen und Akten, mit der sie dem Vorwurf, sie hätten Ende der vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre des 16. Jahrhunderts den Politikern zu weitreichende Zugeständnisse in liturgischen und theologischen Fragen gemacht (vgl. die drei Auflagen - zwei deutsche, eine lateinische - der Schrift: VD 16 W 3725-3727). Im Jahr darauf unternahm ein Autorenkollektiv, das sich selbst als "Wittenberger Studenten" bezeichnete, den Versuch, die "Wittenberger Professoren" gegen die mittlerweile erfolgten Angriffe auf diese Quellenedition durch Matthias Flacius Illyricus und Nikolaus Gallus zu verteidigen. Im Rahmen ihrer teils heftigen polemischen Angriffe auf Flacius und Gallus titulierten sie Flacius mit dem hier vorgestellten Schimpfwort:

"Wenn aber Flacij geifferender Geist je diesen oder jenen, als der newe Bapst und Schneiderkönig, do vnd dort, nicht wissen vnd in Herren Sachen Procuriren wolte, solte er mit denjenigen handelen, an welche die Sachen gehören vnd jr eigen sein, vnd arme vnschuldige Schul- vnd Kirchenpersonen nicht in solche seine weltliche Theologie und Kriegsadiaphora mengen vnd einziehen." (Die Wittenberger Studenten, Summa und kurzer Auszug aus den Actis synodicis (1560), O 4v, unsere Edition Bd. 2, 932,32-933,5).

Der "Bapst" als Inbegriff des Gegners, als Tyrann, als Antichrist war im Erscheinungsjahr der Publikation der "Wittenberger Studenten" seit langem auf evangelischer Seite geläufig (vgl. z. B. Volker Leppin. Antichrist und Jüngster Tag, 206-244). Die Bezeichnung "Schneiderkönig" ist hingegen ein deutlich seltener verwendeter Begriff, der jedoch nicht minder klare Assoziationen bei den Zeitgenossen weckte wie "Bapst". Es handelt sich dabei nämlich um eine Anspielung auf Jan van Leiden, der das Handwerk des Schneiders erlernt und sich in den Jahren 1534/35 in Münster, während der dortigen Herrschaft radikaler Täufer, selbst zum "König" ernannt hatte. Diese Anmaßung von Herrschaft verstieß nach damaliger Ansicht nicht allein gegen die weltliche Reichsverfassung, sondern gegen die wichtigste Legitimationsgrundlage obrigkeitlichen Handelns schlechthin: die göttliche Einsetzung. Anhand der Verwendung des Schmähworts "Schneiderkönig" und dessen rhetorischer Parallelstellung mit "Bapst" wird somit deutlich, dass es den "Wittenberger Studenten" hier darum ging, Flacius als denjenigen zu charakterisieren, der sich herausnahm, in selbst angemaßter, mutwilliger Weise, mithin in tyrannischer Form, andere theologische Lehrmeinungen zu verurteilen und zu verdammen.

Lit.: unsere Edition Bd. 2, Nr. 10, S. 841-943; Friedrich Wilhelm Bautz, Art. Bockelson, Johann, in: BBKL 1 (1990), 641f.        (J. M. L.)

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